Die Situation war durchaus dramatisch: Der 26-jährige Mann zitterte am ganzen Körper, schwitzte stark, sein Blutdruck war auf 80/40 abgesackt, der Ruhepuls lag bei 110.Seine Freundin sagte, er habe sich mit Antidepressiva umbringen wollen, 29 Tabletten habe er geschluckt. Die Ärzte in der Notaufnahme versuchten verzweifelt herauszufinden, um welchen Wirkstoff es sich handelte.
Der depressive junge Mann hatte an einer Medikamentenstudie teilgenommen, Nachforschungen ergaben endlich: Die Tabletten enthielten gar keinen Wirkstoff. Der Mann war in der sogenannten Placebogruppe, der Vergleichsgruppe also, die Tabletten bekamen, die keinen Wirkstoff enthielten.
An diesem Fall demonstrierte Privatdozentin Ulrike Bingel beim Neurologenkongress in Hamburg, welche Kraft die Einbildung der Patienten bei einer ärztlichen Therapie hat, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Den positiven Effekt nennt man Placebo, den negativen Noceboeffekt.
Ist der Placeboeffekt inzwischen gut bekannt, so ist vielen Menschen sein Pendant erst wenig vertraut. Beides könnten Ärzte jedoch für die Therapie nutzen: Indem sie eine positive Erwartungshaltung stärken und eine negative möglichst meiden.
Beipackzettel machen krank
Die Neurologin vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf nannte hierfür eine Reihe von Beispielen aus der aktuellen Forschung. Vertraut ist vielen Ärzten etwa der ein Effekt von speziellen antidepressiv wirkenden Medikamenten, der unter anderem Mundtrockenheit begünstigt.
Er tritt daher bei der einen Medikamentengruppe viel häufiger auf als bei einer anderen. Doch wie viel häufiger? Das lässt sich ohne direkte Vergleichsstudien wohl nicht annäherungsweise ermitteln.
Die Wissenschaftler haben zwei Medikamentenstudien miteinander verglichen. So klagten 6 Prozent der Patienten in der Placebogruppe des einen Medikaments über Mundtrockenheit, dreimal mehr (19 Prozent) waren es in Studien mit einem anderen Antidepressivum – und zwar ebenfalls in der Placebogruppe.
Allein die Tatsache, dass die Patienten mit Mundtrockenheit rechneten, weil man sie darüber informiert hatte oder weil sie besonders danach gefragt wurden, sorgte für ein vielfach höheres Auftreten der Nebenwirkung.
Damit stellt sich die Frage, ob – oder vielmehr unter welchen Bedingungen – eine Placebogruppe tatsächlich geeignet ist, als Kontrollgruppe zu dienen, um einen Therapieeffekt herauszuarbeiten – denn der muss deutlich größer sein als der durch die positive oder negative Erwartungshaltung verursachte Effekt.
Gerade bei Antidepressiva ist dies ein großes Problem, hier zeigen bereits Placebos eine hohe Wirksamkeit. Umgekehrt brechen 30–50 Prozent der Patienten mit Placebo in den Antidepressiva-Studien die Therapie wegen Nebenwirkungen ab.
Auch die schlechte Verträglichkeit von Antidepressiva bei vielen Patienten lässt sich wohl zum großen Teil durch die Erwartungshaltung erklären.
Es wundert daher auch nicht, dass Psychotherapien bei solchen Depressiven am besten wirken, die zuvor von ihrer Wirksamkeit überzeugt sind, und eine Therapie mit Antidepressiva eher wenig Nutzen bringt, wenn die Patienten gegenüber synthetischen Psychopharmaka skeptisch eigestellt sind – nicht zuletzt, weil sie vielleicht intensiv den Beipackzettel gelesen haben.
„Beipackzettel sind aus Sicht der Nocebo-Forschung eine Katastrophe“, so Bingel. „Sie machen Patienten flächendeckend krank, indem sie vermehrt jene Nebenwirkungen hervorrufen, die dort aufgelistet sind.“ Umgekehrt gelte, dass eine ausführliche Aufklärung über den erwarteten Nutzen einer Therapie deren Wirksamkeit erhöhe.
Kopfschmerzen durch Erwartung ausgelöst
Gute Beispiele für Placebo- und Noceboeffekte liefert auch die Schmerzforschung. In einer Studie wurden Patienten, bei denen eine Punktion von Rückenmarksflüssigkeit nötig war, vier und 24 Stunden nach dem Eingriff nach Kopfschmerzen befragt.
Einem Teil der Patienten hatte man zuvor gesagt, dass als Folge der Untersuchung Kopfschmerzen auftreten können. Von diesen Patienten hatte nachher jeder zweite Kopfschmerzen, von den anderen nur jeder zehnte.
Doch Schmerzen lassen sich durch eine gezielt geschürte Erwartungshaltung nicht nur erzeugen, sondern auch lindern. In einer anderen Studie erhielten Probanden leichte Stromstöße und mussten die Schmerzintensität angeben.
Anschließend bekamen sie ein Schmerzmittel. Der einen Gruppe sagte man, es sei ein sehr teures, hochwirksames Medikament, der anderen Gruppe, sie erhielte ein recht günstiges Präparat.
Wie zu erwarten, waren die Schmerzen mit dem „teuren“ Mittel deutlich geringer. Tatsächlich hatten alle aber nur Placebo bekommen.
In eine ähnliche Richtung geht ein anderes Experiment bei Probanden mit Schmerzen, die tatsächlich ein wirksames Therapeutikum bekamen.
Einmal wurde es ihnen unbemerkt computergesteuert infundiert, beim anderen Mal sagte die Krankenschwester zuvor, dass sie nun ein gutes Schmerzmittel erhielten. Die Schmerzlinderung war dann doppelt so groß. Geht man davon aus, so Bingel, dass gerade viele ältere Menschen kurz nach dem Arztbesuch nicht mehr wissen, was das alles für Medikamente sind, die auf dem Rezept stehen, und weshalb sie die Pillen nehmen müssen, so bekommt man eine Ahnung davon, welche Chancen man vergibt, wenn man die positive Erwartungshaltung nicht nutzt.
Noceboeffekt hebt selbst Opiatwirkung auf
Es kann aber noch schlimmer kommen: Durch negative Äußerungen lässt sich selbst die Wirksamkeit eines hochpotenten Medikamentes komplett aufheben.
Das konnte in einem Experiment gezeigt werden, in dem Probanden mit einem hochwirksamen Morphin-Präparat behandelt wurden. Die Intensität eines gesetzten Schmerzreizes lag auf einer 100-Punkte-Skala zu Beginn im Schnitt bei 65 Punkten.
Erhielten die Probanden das Schmerzmittel, ohne dass sie wussten, dass die Infusion bereits begonnen hatte, sank der Wert auf 55 Punkte, wurden sie über die Infusion informiert, ging der Wert auf etwa 40 Punkte zurück.
Sagte man ihnen dagegen, man könne ihnen aus bestimmten Gründen im Augenblick das Schmerzmittel noch nicht geben, es wäre aber schön, sie könnten den Schmerz noch etwas aushalten, und infundierte ihnen dann trotzdem das Morphin-Präparat, so zeigte das Präparat überhaupt keine Wirkung: Die Schmerzstärke blieb bei 65 Punkten.
Therapieeffekt durch Konditionierung
Wer nun glaubt, dass sei alles nur Einbildung und die Patienten hätten in allen Situationen ähnlich starke Schmerzen, wollten das nur nicht zugeben, der wird durch ein anderes Experiment eines Besseren belehrt. Bei gesunden Probanden klemmten Forscher mit einer Manschette den Arm ab, was nach einiger Zeit Schmerzen verursachte. Am ersten Tag hielten sie den Schmerz etwa 13 Minuten aus.
Am zweiten und dritten Tag wurde das Experiment wiederholt, und zwar nach einer Morphin-Injektion. Nun schafften sie knapp 30 Minuten. Am vierten Tag gab es nur Kochsalzlösung, worüber die Teilnehmer auch offen informiert wurden.
Trotz fehlender positiver Erwartungshaltung war der Schmerz immerhin für 20 Minuten erträglich. Das Experiment wurde jetzt mit einer anderen Gruppe wiederholt, hier gab es am vierten Tag aber das Morphin-Gegenmittel Naloxon. Damit schafften Probanden wie zu Beginn nur 13 Minuten.
Wie ist das erklärbar? Nach Auffassung von Bingel sorgt die Erwartungshaltung nur für einen Teil des Placebo- oder Noceboeffekts, der Rest kommt durch einen physiologischen Lerneffekt oder eine Art pharmakologische Konditionierung zustande.
Die Probanden aktivierten im genannten Experiment ihr endogenes Schmerzsystem und schütten bei der Injektion auch körpereigene Opiate aus. Deren Blockade durch Naloxon erklärt, weshalb der Effekt plötzlich verschwand.
Ähnliche Konditionierungseffekte wurden auch im Tierversuch beobachtet: Gab man Mäusen über mehrere Tage hinweg Ciclosporin, eine Substanz, die das Immunsystem blockiert, und wechselte dann auf Placebo, so zeigte sich unter Placebo zunächst ein vergleichbarer Effekt. Solche Konditionierungseffekte könne man möglicherweise nutzen, um nach einiger Zeit die Medikamentendosis zu reduzieren, sagte Bingel.
Versagt die erste Therapie, wirkt oft auch die zweite nicht
Im negativen Sinne kann eine Konditionierung auch bei Therapieversagen erfolgen. In einem Experiment erhielten Patienten einen Schmerzreiz auf die Haut und wurden mit einer Schmerzsalbe behandelt. Bei einigen Patienten setzten die Forscher jedoch einen stärkeren Schmerzreiz, die Salbe wirkte entsprechend nur wenig. Anschließend wurden alle Probanden auf ein Schmerzpflaster umgestellt und mit derselben, geringeren Intensität gequält.
Bei den Teilnehmern, bei denen die Salbe zuvor keine gute Wirkung gezeigt hatte, versagte jetzt auch das Pflaster, dagegen waren die anderen mit der Wirkung des Pflasters zufrieden. Für Bingel stellen solche Versuche ein häufiges Grundprinzip des ärztlichen Handelns infrage: mit niedrigen Dosierungen oder schwachen Wirkstoffen beginnen, und erst eskalieren, wenn diese nicht ausreichend wirken. In der Schmerztherapie legt ein solches Vorgehen ja gerade das Stufenschema der WHO nahe. Da jedoch auch Lernvorgänge für die Wirksamkeit entscheidend sind, sollte ein Therapieversagen unbedingt vermieden werden.
Leiden Patienten erst wochenlang unter wirkungslosen Therapien, mindert dies die Erfolgsaussichten bei einer Therapieumstellung, vermutet die Neurologin. Sie appelliert daher an Ärzte, die neuen Erkenntnisse aus der Placeboforschung rasch im Alltag anzuwenden. „Der Schlüssel dafür ist eine wertschätzende und einfühlsame Arzt-Patienten-Beziehung sowie eine verständliche Information über Erkrankung und Therapie, die die positiven Aspekte betont, ohne unrealistische Ziele zu setzen.“
Dies, so Bingel, sollte aber auch auf anderer Ebene Konsequenzen haben: „Das ärztliche Gespräch bestimmt maßgeblich die Wirksamkeit von Therapien und muss deshalb auch entsprechend honoriert werden.“